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Wie geht es weiter mit dem EU-Hilfs- und Finanzierungspaket?

Erst kürzlich haben sich die EU-Mitgliedsländer während des EU-Gipfels mit zwei großen Themen auseinandergesetzt: Corona-Hilfen für wirtschaftlich angeschlagene Staaten in einer Höhe von insgesamt 750 Milliarden Euro sowie den mehrjährigen Finanzrahmen des EU-Haushalts. Dabei geht es um die Mittel, die der EU von 2021 bis 2027 zur Verfügung stehen. Insgesamt ist dafür eine Summe von 1074 Milliarden Euro eingeplant.

Der Coburger EU- Experte Dr. Peter Fisch war von 1992 bis 2014 Beamter bei der Europäischen Kommission in Brüssel, unter anderem als Referatsleiter für die Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Heute lebt er wieder in Coburg. Die europäische Politik auf dem Kontinent verfolgt er immer noch mit großem Interesse.

Herr Fisch, wo kommen die 750 Milliarden Euro für das Corona-Hilfspaket eigentlich her?

Das Geld wird über Anleihen als Kredit am Kapitalmarkt aufgenommen. Es ist das erste Mal, dass die Europäische Union eigene Anleihen ausgibt. Da hinter der EU aber Mitgliedstaaten mit sehr guter Bonität stehen, wie etwa auch Deutschland, dürften diese Kredite in der derzeitigen Situation zu einem sehr günstigen Zinssatz zu bekommen sein – bei vergleichbaren Bundesanleihen liegt der Zinssatz sogar bei Null Prozent.

Die EU macht also Schulden – birgt das nicht hohe Risiken für die Mitgliedsstaaten?

Wie das harte Ringen beim Gipfel gezeigt hat, braucht es einen einstimmigen Beschluss der Staats- und Regierungschefs um „europäische“ Schulden aufzunehmen – die einzelnen Mitgliedstaaten behalten also die volle Kontrolle über die Höhe der Gesamtverschuldung. Krasser formuliert: Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen kann nicht „einfach so“ mehr Geld ausgeben und neue Schulden machen.

Andererseits erhöhen die neuen „europäischen“ Schulden die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte in allen Mitgliedstaaten. Das ist grundsätzlich natürlich keine gute Nachricht, aber es gibt einen weitgehenden Konsens, dass die ungewöhnliche Dramatik der derzeitigen Situation einen solchen schwerwiegenden Schritt rechtfertigt.

Halten Sie die Summe für ausreichend, um von der Corona-Pandemie besonders belastete EU-Staaten zu unterstützen?

Die Corona-Krise hat große Länder wie Italien, Frankreich und Spanien hart erwischt – mit deutlich höheren Opferzahlen als in Deutschland und auch mit massiven wirtschaftlichen Konsequenzen. Angesichts der Dimension dieser Belastungen ist der Ansatz „Klotzen, nicht kleckern“ sicherlich grundsätzlich richtig: Europa muss jetzt schnell und wuchtig zeigen, dass wir uns gegenseitig helfen. Langwieriges Klein-Klein wäre der falsche Weg und würde in der jetzigen Situation keinen Schub aus der Krise ermöglichen.

Wichtig ist aber auch, nicht nur den Gesamtbetrag im Auge zu behalten, sondern auch darauf zu achten, was mit dem vielen Geld geschieht. Das bleibt grundsätzlich den nationalen Regierungen überlassen, und es bleibt zu hoffen, dass dort die Mittel intelligent eingesetzt werden – um einerseits die akuten Schwierigkeiten zu überwinden, andererseits aber auch Politik für die Zukunft zu gestalten.

Wer bzw. welche Länder sind aus Ihrer Sicht Gewinner oder Verlierer der Vereinbarung?

Es ist gerade erst vier Monate her, dass in Europa die meisten Grenzen geschlossen waren und jedes Land Angst davor hatte, von „draußen“ neue Infektionen einzuschleppen. Verglichen damit ist es ein großer Erfolg, dass jetzt 27 Staaten eine gemeinsame Grundlage gefunden haben, um solidarisch diese Herausforderung anzugehen. Von daher gab es nur Sieger – und gleichzeitig gab es nur Verlierer, denn eine alte Diplomaten-Weisheit besagt, dass ein Kompromiss nur dann gut ist, wenn er allen Beteiligten gleichermaßen weh tut ...

Im Mittelpunkt der Diskussionen während des Sondergipfels stand immer wieder das Rechtsstaatlichkeitsprinzip – wie wurde das letztendlich in die Entscheidungen eingebunden?

Europa ist mehr als eine große Bürokratie und eine gewaltige Geldverteilungs-Maschine – Europa ist auch eine Gemeinschaft, in der wir über alle kulturellen und politischen Grenzen hinweg Überzeugungen und Werte teilen. Wenn wir diese Dimension vernachlässigen oder gar ganz unter den Tisch fallen lassen, gefährden wir das gesamte Projekt Europa.

Während die Europäische Kommission und das Europa-Parlament dieses Thema konsequent verfolgen und Missstände in einigen Mitgliedstaaten offen ansprechen und kritisieren, sind die Staats- und Regierungs-Chefs im Umgang untereinander sehr viel zurückhaltender und vermeiden eine deutliche Sprache. Die jetzt vereinbarten Regelungen greifen die Thematik zwar auf, aber sie erfüllen meiner Meinung nach nicht ihren Zweck. Eine Umsetzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips muss bedeuten: Wer in seinem Land grundlegende Rechte wie die Unabhängigkeit der Justiz oder die Freiheit der Presse beschneidet, der hat in Brüssel massive Konsequenzen zu befürchten. Und idealerweise sollten diese Konsequenzen so direkt und so unangenehm sein, dass derartige Eingriffe in die demokratische Grundordnung für jede Regierung zum „No-Go“ werden. Alle Regelungen die es erlauben, durch ein Hintertürchen ungeschoren davon zu kommen, verfehlen ihren Zweck.

Bevor die Gelder aus dem geplanten Corona-Aufbaufonds oder aus der ab 2021 beginnenden neuen siebenjährigen EU-Finanzvorausschau fließen können, muss neben den nationalen Parlamenten auch das EU-Parlament zustimmen. Wie geht es jetzt also weiter und welchen Einfluss können die Parlamentarier ausüben?

Das EU-Parlament muss der Vereinbarung zustimmen – und die großen Fraktionen haben bereits klargemacht, dass es dazu nicht kommen wird. Es wird also zu intensiven Verhandlungen kommen, um den jetzt vorgestellten „Deal“ auch für das Parlament akzeptabel zu machen. Grundsätzlich dürfte dabei das heikle, aber wichtige Thema des Rechtsstaatlichkeits-Prinzips eine zentrale Rolle spielen. Im Detail dürfte das Parlament darauf pochen, dass der Finanzrahmen bis 2027 wieder mehr Mittel für den Klimaschutz vorsieht, als dies nach einem „Streichkonzert“ in der letzten Gipfelnacht aktuell noch der Fall ist. Und auch die Forderung nach mehr Geld für Forschung und Innovation ist sehr plausibel, wenn man Europa weltweit wettbewerbsfähig halten will. Es sind also durchaus noch wichtige Aspekte in der Diskussion, aber auch das EU-Parlament kann kein Interesse daran haben, die Vereinbarungen komplett platzen zu lassen und weitere Verzögerungen zu riskieren.

Zur Person

20 08 27 Dr Peter FischDr. Peter Fisch war von 1992 bis 2014 Beamter bei der Europäischen Kommission in Brüssel, unter anderem als Referatsleiter für die Forschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Heute lebt er wieder in Oberfranken in seiner Heimatstadt Coburg. Als Referent stellt er europäische Themen vor und freut sich über rege Diskussionen vor allem mit jungen Leuten in Schulen. Seine Schwerpunkte sind die Europäische Forschungspolitik, Europapolitik und die Coburger Geschichte.